Keywords: Sowjetunion; Russland; visuelle Kultur; sowjetischer Film; postsowjetischer Film; Filmgenre; Luftfahrt; Raumfahrt.
Es herrscht kein Mangel an Studien über die sowjetische und russische Geschichte der Luft- und Raumfahrt und ihre Wechselwirkungen mit Kunst und Kultur. In den vergangenen 20 Jahren sind diverse Publikationen erschienen, etwa von Robert Kluge (1997), Emma Widdis (2003), Scott Palmer (2006), Tim Harte (2009) und Boris Vorob’ev (2015), die Aspekte der neuen Technologien in der Luftfahrt mit kulturellen Entwicklungen und der Ideologie der Sowjetunion und Russlands in Beziehung setzen. Zur Raumfahrt sind insbesondere in jüngerer Zeit von Аsif Siddiqi (2010), James Andrews und Asif Siddiqi (2011), Eva Maurer et al. (2011), Igor Polianski und Matthias Schwartz (2011), Michael Smith (2014) und Slava Gerovitch (2015) beachtenswerte Studien zu den Mythen, Imaginationen, dem Enthusiasmus und der identitätsstiftenden Rolle der sowjetrussischen Erfolge im ‘space race’ vorgelegt worden. Von David Shayler und Ian Moule (2005) stammt eine der seltenen Abhandlungen, die sich mit der wenig beachteten Rolle der Frauen in der Raumfahrt befasst, im Wesentlichen hier auch mit Frauen aus der UdSSR. Auffallend wenige russischsprachige Studien sind darunter; sie befassen sich vorwiegend mit den philosophisch-wissenschaftlichen, künstlerischen und auch biopolitischen Traditionen und neuen Explorationen des russischen Kosmismus (Groys 2015), die auch jüngst Gegenstand einer Ausstellung und eines Symposiums im Berliner Haus der Kulturen der Welt waren (Groys und Vidokle 2018)
Doch angesichts der Popularität und Bedeutung des Themas ist es verwunderlich, dass doch insgesamt nicht mehr Monographien und tiefer gehende Sammelbände vorliegen. So ist es ein Verdienst von Vlad Strukov und Helena Goscilo, mit einem breit angelegten Konzept neue Studien dazu zu versammeln. In zwei Abteilungen zu Kunst und Architektur einerseits und zu Film sowie Animation und Computerspielen andererseits werden in zehn Artikeln gerade solche Aspekte behandelt, die besonders die “intersection of the technologies of flight and visual culture” in der sowjetischen und post-sowjetischen Epoche beleuchten (Strukov und Goscilo 2017: 29). Der von den beiden Herausgebern gespannte Bogen reicht – wie an den Illustrationen ersichtlich – von Engeln und der Edda-Sage bis zu Flugsimulator-Games.
Im ersten Teil werden dabei Luftfahrthelden in der bildenden Kunst, Aleksandr Dejneka, satirische Distanzierung in Karikaturen und architektonische Reflexionen der russischen Moderne auf die technologischen Entwicklungen behandelt. Auch die neo-kosmistische Gegenwartskunst von Aleksej Beljaev-Gintovt wird thematisiert, wobei mit dem Begriff weniger die Visionen etwa Konstantin Ciolkovskijs zur Realisierung von Raumfahrt gemeint sind, die ebenfalls als Kosmismus bezeichnet werden. Im zweiten Teil sind Artikel über Spezialeffekte in Raumfahrtfilmen und die damit verbundenen Möglichkeiten und Problematiken, über Fliegermythen in den russischen Filmen der 2000er Jahre, neuere Animationsfilme mit Tieren als Helden der Raumfahrt, Kavuns Afghanistan-Film Kandagar / Kandahar (2010, Russland) und eben Flugsimulator-Spiele versammelt. Das breite Themenspektrum führt zu Entdeckungen und neuen Erkenntnissen auf den dem eigenen Erkenntnisinteresse ‚benachbarten‘ Gebieten. Es führt jedoch auch dazu, dass ein roter Faden nicht immer zwingend zu erkennen ist. Gerade die Einführung von Strukov und Goscilo mit dem Titel „The aerial ways of aspiration and inspiration, or the Russian chronot(r)ope of transcendence“ führt in kunsthistorische Verästelungen hinein, die die dann folgenden disparaten Themen methodisch nicht bündeln können. Und Strukovs abschließender Artikel „Simulating ‘Sturm und Drang’. Theorizing digital historization, commemoration, and participation“ glänzt zwar mit bis in die jüngste Vergangenheit von 2010 reichenden Beispielen und Beobachtungen. Doch er kann nicht die in früheren Studien zu einschlägigen Filmen (z. B. von Widdis 2003 oder Palmer 2006) erlangte analytische Tiefe erreichen. Bei diesen Filmstudien wird der Zusammenhang von persönlichem und nationalem Stolz und politischen Ambitionen mit der Luft- und Raumfahrt sowie ihrer tragenden Rolle bei der Bildung identitätsstiftender Mythologeme deutlich. Hier aber fehlen ähnlich greifbare oder vergleichbare Beobachtungen bei den Computergames, die auch einen Transfer zwischen den Kunstgattungen erlauben würden.
Die Darstellung der Luftfahrthelden in der Sowjetkunst von Mike O’Mahony gehört zu den überzeugendsten Texten des Bandes. Das wird durch die weitgehende Konzentration auf Čkalov-Porträts und Vera Muchinas Denkmalsentwürfe für die Retter der Čeljuskin-Schiffbrüchigen erreicht, auch wenn die Ergänzung wichtiger anderer Heldenfiguren der Fliegerei dem unten noch besprochenen Artikel von Julian Graffy vorbehalten bleibt. Insgesamt wird die Modellierung von Heldenbildern und die Visualisierung moderner sowjetischer Erfolge (sowie der Umgang mit Misserfolgen) durchaus deutlich. Auch Helena Goscilos Text über Aleksandr Dejnekas Gemälde und Mosaike zu Luftfahrt und Sport kann kunsthistorisch überzeugend das dahinter stehende künstlerische Ideal dynamischer Körper und der Verwendung extrem untersichtiger Perspektive mit metaphysischer Überhöhung zum „Neuen Menschen“ und „Übermenschen“ darlegen. John Ettys Artikel „Cosmic Cosmonaut“ zu den satirischen Raumfahrt-Karikaturen in der Zeitschrift Krokodil hingegen ist zwar in der ikonographischen Analyse umfassend angelegt, kann aber durch die Überfülle der Details die Grundthese nicht vollkommen zufriedenstellend stützen, nach der der kulturelle Code in der Tauwetterperiode aufgeweicht werde (Strukov, Goscilo 2017: 111) und die zukunftsgerichtete technologische Entwicklung die politische Vergangenheitsorientierung in Frage stellte (ibid.: 112).
Die wohlinformierte Untersuchung der „Special/spatial effects in Soviet Cinema“ von Birgit Beumers weiß hingegen durch die filmhistorisch eingebettete Darstellung der Problematik zu überzeugen, die sich methodisch und technisch bei der filmischen Umsetzung des neuen Genres Science Fiction und als populärwissenschaftliche Filme ergibt. Insbesondere die Analyse der Effekte in den Pavel Klušancevs Filmen Doroga k zvezdam / Der Weg zu den Sternen (1957, Sowjetunion), Planeta bur‘ / Planet der Stürme (1961, Sowjetunion) und Luna / Mond (1965, Sowjetunion) vermittelt neue Erkenntnisse. Auch die weitere Entwicklung wird entsprechend eingeordnet: Durch den Triumph der USA beim Wettlauf zum Mond sind die sowjetischen Raumfahrtprogramme und die sie reflektierenden und propagierenden Raumfahrtfilme massiv zurückgefahren worden. Dadurch änderte sich die Perspektive der filmischen Repräsentation, etwa in Andrej Tarkovskijs Soljaris / Solaris (1972, Sowjetunion). Statt die „missionarische Rolle“ der vorangegangenen Science-Fiction-Filme auszufüllen oder ihren zivilisationsfördernden Impetus (ibid.: 182) zu pflegen nimmt Tarkovskijs Film eine metaphysisch-kritische Position ein. Sie ‚erdet‘ den sich in der Euphorie der 1960er Jahre selbstüberschätzenden Astronauten- und Kosmonauten-Menschen wieder in seiner Bedeutungslosigkeit im Gesamt-Universum. In den 2000er Jahren ist zwar, wie Beumers argumentiert, die technologische Aufholjagd der russischen Filmindustrie bei filmischen Computer-Spezialeffekten erfolgreich abgeschlossen. Jedoch bezahlt sie dies mit dem Preis immer stärker aufkommender ethischer Bedenken angesichts der perfekten Fabrikation von Realität im Film. Die Skepsis gegenüber dokumentarischen Bildern, die sich in Zeiten von Debatten von fake news heute noch verstärkt, schlägt so neuerdings auch den Errungenschaften der Raumfahrt entgegen, wie in Aleksej Fedorčenkos Mockumentary Pervye na lune / First on the Moon (2005, Russland). Dort wird die Mondlandung als Triumph der sowjetischen Kosmonautik inszeniert und damit wirft der Film auch ironisch Fragen zur Authentizität und zum Status von Archivmaterial auf. Zugleich werden die sowjetischen Mythen von Heldentum, Kameradschaft und Lufthoheit dekonstruiert.
Julian Graffys ausführlicher Artikel geht dem Mythos des Fliegens in neueren russischen Filmen von Aleksej Popogrebskij (Koktebel / Koktebel, 2003, Russland), Aleksej German jr. (Bumažnyj soldat / Der Papiersoldat, 2008, Russland), des eben erwähnten Aleksej Fedorčenko, von Andrej Maljukov (My iz buduščego / Wir aus der Zukunft, 2008, Russland) sowie Aleksandr Vojtinskij und Dmitrij Kiselev (Černaja molnija / Schwarzer Blitz, 2010, Russland) nach. Er kann kenntnisreich über Zeitreisen, eskapistische Träume, Opfer und Tod, Mystifikation und den ‚Ikarus-Komplex‘ informieren. Damit ist zwar die jüngere Vergangenheit erreicht und auch einschlägige Fernsehfilme werden nicht ignoriert. Jedoch kommt es zu diversen Überschneidungen mit anderen Artikeln im Band. Vlad Strukovs Beitrag über die ‚tierischen Raumfahrer‘ stellt Svjatoslav Ušakovs und Inna Evlannikovas nach Hollywood-Blockbuster-Maßstäben produzierten Animationsfilm Zvezdnye sobaki: Belka i Strelka / Space Dogs (2010, Russland) in den Mittelpunkt. Er kann überzeugend die Tendenz belegen, nach der im heutigen Russland revisionistisch an der Rekonstruktion sowjetischer Mythen gearbeitet wird. Unter Rückgriff auf die Ikonografie der 1930er, 1950er und 1960er Jahre, aber im perfekten Hollywood-gleichen Stil, gelingt es dabei, auf die früheren Erfolge der Nation zu rekurrieren und den historischen Diskurs über Stalin zu legitimieren (ibid.: 241).
Es wird erkennbar, dass die große Bandbreite der Themen eine methodische Vielfalt an den Tag legt, die zur Problematik recht unterschiedlicher Niveaus in Argumentation und Analyse führt. Wünschenswert wären etwa noch die beiden Abteilungen einführende oder resümierende Texte der Herausgeber gewesen, die den Erkenntnisgewinn aus den Einzelstudien komparatistisch erhöht hätten. Verdienstvoll sind hingegen die Präsentation einiger weitgehend neuer Themen und Aspekte sowie der interdisziplinäre Ansatz. Zudem – nicht selbstverständlich – dürfen sich die Leser über ein Sach- und Namensregister freuen.
Alexander Schwarz
Freier Filmhistoriker, München
alex_schwarz@t-online.de
Alexander Schwarz studierte Neuere deutsche Literatur (Schwerpunkt Filmphilologie), Neuere Geschichte und Slavistik in München und St. Andrews, Schottland, sowie an der Staatlichen Filmhochschule VGIK in Moskau. Promotion in München mit einer Arbeit über deutsche und russische Stummfilm-Drehbücher; 1994 bis 2004 Fernsehredakteur im Dokumentarfilmbereich in München und London, seit 2005 freier Filmhistoriker, Kurator von Filmreihen, Filmemacher und Übersetzer für Filme aus dem Englischen und Russischen. Mit Günter Agde Herausgeber von Die rote Traumfabrik. Meschrabpom-Film und Prometheus 1921 − 1936, Berlin 2012, und mit Rainer Rother Herausgeber von Der Neue Mensch. Aufbruch und Alltag im revolutionären Russland (DVD-Edition und Booklet), Berlin 2017.
Andrews, James and Asif Siddiqi (eds.). 2011. Into the Cosmos: Space Exploration and Soviet Culture. Pittsburgh.
Gerovitch, Slava. 2015. Soviet Space Mythologies. Public Images, Private Memories, and the Making of a Cultural Identity. Pittsburgh.
Groys, Boris. 2015. Russkij kosmizm: antologija. Moskva
Groys, Boris und Anton Vidokle (eds.). 2018. Kosmismus. Berlin.
Harte, Tim. 2009. Fast Forward: the Aesthetics and Ideology of Speed in Russian Avant-garde Culture, 1910-1930. Madison.
Kluge, Robert. 1997. Der sowjetische Traum vom Fliegen. Analyseversuch eines gesellschaftlichen Phänomens. München.
Maurer, Eva, Julia Richers, Monika Rüthers, Carmen Scheide (eds.). 2011. Soviet Space Culture: Cosmic Enthusiasm in Socialist Societies. New York.
Palmer, Scott. 2006. Dictatorship of the Air. Aviation Culture and the Fate of Modern Russia. Cambridge, Mass.
Polianski, Igor und Matthias Schwartz (eds.). 2011. Die Spur des Sputnik. Kulturhistorische Expeditionen ins kosmische Zeitalter. Frankfurt am Main.
Siddiqi, Asif. 2010. The Red Rockets' Glare: Spaceflight and the Soviet Imagination, 1857 – 1957. Cambridge, Mass.
Shayler, David and Ian Moule. 2005. Women in Space - Following Valentina, Berlin, Heidelberg, New York.
Smith, Michael. 2014. Rockets and Revolution: A Cultural History of Early Spaceflight. Lincoln, Neb.
Vorob’ev, Boris. 2015. Rossija na vzlete. Iz istorii otečestvennogo vozduchoplavanija, aviacii i kosmonavtiki: statʹi vospominanija. Moskva.
Widdis, Emma. 2003. Visions of a New Land. Soviet Film From the Revolution to the Second World War. New Haven, Ct.
Fedorčenko, Aleksej. 2005. Pervye na lune / First on the Moon. Sverdlovskaja Kinostudija, Kinokompanija Strana.
German jr, Aleksej. 2008. Bumažnyj soldat / Der Papiersoldat. Lenfil’m, Fenomen films, Telekanal Rossija.
Kavun, Andrej. 2010. Kandagar / Kandahar. Rekun-Sinema.
Klušancev, Pavel. 1957. Doroga k zvezdam / Der Weg zu den Sternen. Leningradskaja kinostudija naučno-populjarnych fil’mov.
Klušancev, Pavel. 1965. Luna / Mond. Lennaučfil’m.
Klušancev, Pavel. 1961. Planeta bur‘ / Planet der Stürme. Leningradskaja kinostudija naučno-populjarnych fil’mov.
Maljukov, Andrej. 2008. My iz buduščego / Wir aus der Zukunft. А-1 Kino Video.
Popogrebskij, Aleksej. 2003. Koktebel / Koktebel. Kinokompanija Koktebel.
Tarkovskij, Andrej. 1972. Soljaris / Solaris. Mosfil’m.
Ušakov, Svjatoslav und Inna Evlannikova. 2010. Zvezdnye sobaki: Belka i Strelka / Space Dogs. Kinostudija Zentr nazional’nogo fil’ma.
Vojtinskij, Aleksandr und Dmitrij Kiselev. 2010, Černaja molnija / Schwarzer Blitz. Universal Studios, Focus Features, Bazelevs.
Schwarz, Alexander. 2018. Review: “Vlad Strukov and Helena Goscilo (eds.). Russian Aviation, Space Flight, and Visual Culture.” Women at the Editing Table: Revising Soviet Film History of the 1920s and 1930s (ed. by Adelheid Heftberger and Karen Pearlman). Special Issue of Apparatus. Film, Media and Digital Cultures in Central and Eastern Europe 6. DOI: http://dx.doi.org/10.17892/app.2018.0006.95
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