Anke Hennig: Sowjetische Kinodramaturgien. Konfliktlinien zwischen Literatur und Film in der Sowjetunion der dreissiger Jahre

Berlin: Vorwerk 8, 2010, ISBN 9783940384256. 392 S.

Author
Christian Pischel
Keywords
Stalin; Louis Hjelmslevs; Jeremija Joffe; Sowjetunion; Dramaturgie; Szenarium; Literatur; Film; Montage; sowjetische Filmgeschichte 1930-1940

Die Arbeit, die Anke Hennig bereits 2010 veröffentlich hat, stellt zweifelsohne eine bedeutsame Auseinandersetzung mit der sowjetischen Filmästhetik der 1930er Jahre dar, sie riskiert allerdings nicht selten eine wohlwollende Lektüre, sofern ihr Darstellung vorraussetzungsreich und manchmal verdichtet bis zur Grenze der Opazität ist. Dabei ist die Perspektive, die sie vorschlägt und mit beeindruckender Konsequenz verfolgt, enorm produktiv. Die 1930er Jahre sind Schauplatz ausgedehnter ästhetischer Debatten, die meist im Spannungsfeld von Postavantgarde und Stalinismus, in einer Konstellation von Kunst und Macht wahrgenommen werden. Das sind die zentralen Fragestellungen in der Diskussion um die „Kultur zwei“ (Vladimir Papernyj), der Kultur unter stalinistischem Gestaltungsdruck, darin bestehen natürlich auch die landläufigen Lektüreerwartungen. Doch diese Fragen werden konsequent ersetzt durch einen – man kann es nicht anders nennen – radikal immanenten Blick auf den ästhetischen Diskurs, auf ihre Positionen und sich verschiebenden Konfliktlinien. Schließlich ertappt man sich dabei, dass man darauf wartet, dass endlich „Stalin“ die Bühne betritt und Ordnung in die eigene Lektüre bringt.

Was stattdessen passiert, ist aber bei weitem interessanter: Hennig nimmt einen bemerkenswerten Vorgang in den Blick, nämlich die Entwicklung der sowjetischen Kinodramaturgie. Damit ist, kurz gesagt, der Versuch benannt, das sowjetische Filmschaffen in den 1930er Jahren so umzustrukturieren, dass sein Dreh- und Angelpunkt nicht länger im Film, Drehbuch oder Regisseur wahrgenommen wird, sondern im Szenarium, der literarisch ausgearbeiteten Szenenfolge. In Abgrenzung zum Drehbuch unterwirft es die Kinodramaturgie einer geradezu optimistischen Verwissenschaftlichung, um letztendlich jeden literarischen, künstlerischen und ideellen Wert allein auf sich zu konzentrieren. Solch eine Neuperspektivierung der filmischen Produktion geht mit dem deutlichen Bestreben einher, sämtliche Künste, ihre Verfahren und Poetiken in ein kohärentes und hierarchisches Verhältnis zu bringen – ein historisch beispielloser Vorgang, dessen filmhistoriographischen Konsequenzen noch bedacht sein wollen.

Im ersten Kapitel geht Hennig drei zentralen „Sockelthesen“ (2010: 75) nach, denen die Neuhierarchisierung der ästhetischen Produktion in den 1930er Jahren folgt: Das Szenarium sei erstens die Grundlage des Films, beanspruche zweitens den Status eines eigenwertigen literarischen Kunstwerks, und drittens sei der Szenarist derjenige, dem die Autorenschaft – nicht nur des Szenariums selbst, sondern auch des Films – zukomme. Anhand dieser Thesen beschreibt die Autorin die Konsequenzen, die die kulturpolitische Umgestaltung ab 1934 auf verschiedenen Ebenen mit sich führt: Zum einen bestätigt sie den deutlichen Zug zur Textualität bzw. Literarizität, zum anderen konstatiert sie, dass die historischen avantgardistischen Poetiken und medialen Formationen in die Gegenwart der hochstalinistischen Epoche als Vorgeschichte integriert werden. Ein „allgemeiner Ordnungszwang“ (ibid.: 34) wird sichtbar, sobald der Film vom explorativen Montageparadigma auf ein Wirklichkeitsverhältnis im Sinne des Sozialistischen Realismus gebracht wird. Der ästhetische Eigenwert des Szenariums ordnet die Kinodramaturgie den literarischen Gattungen wie Epik, Lyrik und Dramatik bei. Entsprechend spaltet es sich vom Regiedrehbuch ab und wird als selbstständig Werkeinheit publiziert oder soll nach Vorbild der Dramatik mehrfach verfilmt werden, da schließlich das Szenarium als legitimer Träger der künstlerischen Idee gilt, die sich im Film lediglich konkretisiere. Immer wieder kann die Autorin die Positionen der ästhetischen Debatte mit den konkreten Filmproduktionen in Verbindung setzen, wenn etwa der abstrakte Montageraum zugunsten eines bereinigten und kontrollierten Bewegungsraumes der Einstellungsmontage verworfen wird. Entsprechend konstatiert sie eine Schwerpunktverlagerung von der Postproduktion der Montage auf die Präproduktion der Einstellungskomposition, die zahlreichen Redaktionsstufen und Korrekturdurchläufe nach sich zieht. Darin wird nicht allein eine Bürokratisierung als Machtinstrument greifbar, vielmehr ist eben hier der tatsächliche Handlungsspielraum der Szenaristen angesiedelt. Sofern diese von 1934 bis 1956 den Autorenstatus beanspruchen konnten, wurde damit nicht allein ein akademischer Sachverhalt tangiert – inwiefern er beispielsweise mit dem Regisseur konkurriert – aus der ideellen und ästhetischen Verantwortung leitete sich ja eine faktische Haftbarkeit ab.

Das zweite Kapitel versucht die Systematik der Szenarienmodelle herauszuarbeiten. Statt die Debatten und Positionen nach ihrem Bezug zur Macht zu organisieren, bedient sich Hennig eines interessanten Kunstgriffs. Sie unterlegt der erstaunlich lebhaften Debatte die Glossematik des dänischen Strukturalisten Louis Hjelmslevs, die dieser in den 1930 Jahren zur Systematisierung kleinster bedeutungstragender Einheiten entwarf. Hjelmslevs unterscheidet nach dem Kriterium der Gegliedertheit zwischen Substanz und Form sowie nach dem Kriterium Materialität zwischen Inhalt und Ausdruck. Daraus ergibt sich eine vierwertige Matrix, die es tatsächlich schafft, die Konzeptualisierung des Szenariums zu strukturieren und die stalinistische Hierarchisierung nachvollziehbar zu machen: Die höchste Aufmerksamkeit gilt der Inhaltssubstanz; sie besteht in der Idee, die als eigentliches Kunstkriterium veranschlagt wird und die Einheit des Werkes gewährleistet. An zweiter Stelle befindet sich die Inhaltsform, die vor allem Handlung und Gestalt betrifft, wobei die Tendenz vermerkt wird, der Aufdeckung der Gestalt die eigentliche Priorität in der Bedeutungsstiftung zu geben. Problematisch wird hingegen die Ausdruckseite betrachtet, da die Ausdrucksform in vollkommene Abhängigkeit zum Inhalt gesetzt wird. Die letzte Dimension des Szenariums liegt in der Ausdrucksubstanz, die weniger der Medienspezifik folgend in Richtung Visualität oder Textualität ausgearbeitet wird, sondern letztendlich auf das „Sozium“ verlagert wird: Als eigentlicher Gegenstand der künstlerischen Gestaltung müsse das Massenpublikum bestimmt werden. Anhand dieses begrifflichen Instrumentariums kann Hennig sehr plausibel die historischen Verschiebungen beschreiben, die in den 1930er Jahren vollzogen wurden. Insbesondere die Frage nach der Unterscheidung von Sujet und Fabel, die mehr und mehr verschliffen wird, zeigt sich mittels der Hjelmslevschen Terminologie nicht als stalinistischer Willkürakt, sondern wird als kohärente Tendenz innerhalb der kinodramaturgischen Debatte greifbar. Und nicht zuletzt wird daran deutlich, warum entsprechende Genres, die stark auf dieser Differenz aufbauen, wie z.B. der Kriminalfilm, im kulturpolitischen Koordinatensystem der Sowjetunion das Nachsehen haben müssen.

Diese „Transparenz der Ausdrucksformen“ (ibid.: 14) untereinander, die der zeitgenössische Diskurs postuliert, untersucht Hennig im folgenden Kapitel auf seine Konsequenzen für die Einzelkünste hin. Die beschriebene Entdifferenzierung führt im Fall des Films zu der – für heutige Verhältnisse ungewöhnlichen Vorstellung – einer vorzeitigen Vergreisung des einzelnen Films. Wird seine spezifisch filmische Form derart akzidentiell gesetzt, stellt er nur eine flüchtige Konkretisierung des Szenariums dar, die bereits nach wenigen Jahren eine aktualisierte Neuinszenierung verlangt. Eine solche „Progeria“ befalle die Filme, da sich zwangsläufig ein Verlust ihrer immersiven Kraft einstelle, wie es besonders am Veralten der Stummfilmästhetik angesichts des Tonfilms der 1930er Jahre deutlich werde. Kurz: Der Film selbst entbehre einer eigenen Geschichte, nur seine enge Anknüpfung an die Literatur gebe ihm kunsthistorischen Halt. Doch auch die Literatur, obwohl als Leitkunst gesetzt, wird mehr und mehr entkernt, je stärker sie vom Erzählen, von der „sprachlichen Faktur der Narration“ (ibid.: 15) befreit wird. Die Nivellierung von Sujet und Fabel konzentriert, wie Hennig plausibel dazulegen vermag, die Literatur auf ein schiere „Zeigen“, das vom Theater auf die übrigen Künste ausstrahlt. Mit diesem Rekurs auf das Theater wird eine Schwundform der Dramaturgie paradigmatisch, die vollständig auf eine wörtliche Positivität abzielt und alle Formen der Auslassung, des Aufschubs, ja der Negativität im Allgemeinen unterminiert.

Im letzten Teil rückt die eigentliche Debatte um die Kinodramaturgie in den Hintergrund, wenn die Autorin ihrer Untersuchung eine medienhistorische Wendung gibt. Zunächst entfaltet sie die Position des sowjetischen Theoretikers Jeremija Joffe, der in den 1920/1930 Jahren versucht hat, die Frage nach der Synthese der Künste nicht über eine gemeinsame Semiosis zu lösen. Auf den Ebenen Semantik, Form und Material stellt er zwischen den Künsten differenzierte Bezüge her. Diese erlauben es nicht nur, die stalinistische Kunst formal zu beschreiben, sondern treiben das Problem, wie eine Synthese der Materialen zu denken sei, so weit, dass ein Medienbegriff vorgedacht wird, der diese als synchronisierbar vorstellt. Das läuft auf eine Konzeptualisierung der Temporalität zu, die unter einem kunsthistorischen Materialbegriff kaum greifbar war. Konkretisiert wird die Frage nach der Zeitlichkeit anhand der Überlegungen Eisensteins, Pudovkins und Vertovs, die im Kontext der Debatte um das Verhältnis von Ton und Bild im Tonfilm formuliert wurden. Leider rekapituliert der letzte Teil der Arbeit nicht die wertvollen Befunde der ersten Kapitel. Stattdessen öffnet er das Feld auf eine Weise, die nicht immer in ihren Argumentationsverläufen transparent wird. Manch ein angekündigtes Erkenntnisinteresse, wie beispielsweise die filmhistorische Fundierung des Deleuz’schen Zeitbildes im Sowjetkinos, bleibt ein wenig blass – nicht zuletzt aufgrund der Tatsache, dass hier die umfangreiche filmwissenschaftliche Debatte natürlich nicht ausführlich referiert werden konnte.

Hennigs Studie verlangt dem/der LeserIn einiges an Konzentration und Ausdauer ab. Die Entscheidung zentrale Begriffe in einem Glossar zu vereinigen, ist funktional, erweist sich aber nicht immer als glücklich; manchmal vermisst man Literaturreferenzen, manchmal wünscht man sich stattdessen eine ausführlichere historische Begriffsarbeit. Im materialreichen Durchgang durch die Kinodramaturgie schafft sie es allerdings, zweierlei zu zeigen: Zunächst wird das Bild der sowjetischen Künste der 1930/1940er Jahre nicht mehr von der trivialen Seite des stalinistischen Machtanspruchs her entworfen, sondern von der Seite ihrer weitverzweigten und anspruchsvollen Konzeptualisierungsversuche, die eine binäre Schematisierung nach Dissidenz und Loyalität nicht erlaubt. Zudem leistet dieses Buch, wie oben angedeutet, eine nicht zu unterschätzende Zuarbeit, wenn darum geht, die filmhistorischen Plateaus, in denen der Staatsauftrag bis auf die Filmästhetik durchgriff (das gilt ebenso für die frühe DEFA), eben nicht zu „normalisieren“. Dagegen scheint hier ein völlig anderer Aggregatzustand des Films auf, den es noch in all seinen Konsequenzen zu fassen gilt.

Die faktischen Zurichtungen durch Zensur und politischen Interventionen treten in dieser instruktiven Studie zugunsten der Eigenlogik des Diskurses in den Hintergrund. Letztlich hat dieses Manöver den interessanten Effekt, dass der Diskurs der postautonomen Kunst „Stalin“ gewissermaßen doch noch als spektrale Entität mitführt. Mit anderen Worten: das eigene Befremden, das einem angesichts der normativen und spannungsreichen Theoriebildung befällt, liest sich selbst noch als Spur der Macht.

Dr. Christian Pischel
Institut für Theaterwissenschaft/Seminar für Filmwissenschaft der Freien Universität, Berlin
pischel@zedat.fu-berlin.de

Suggested Citation

Pischel, Christian 2015. Rezension: “Anke Hennig: Sowjetische Kinodramaturgien. Konfliktlinien zwischen Literatur und Film in der Sowjetunion der dreissiger Jahre,” Apparatus. Film, Media and Digital Cultures in Central and Eastern Europe 1. DOI: http://dx.doi.org/10.17892/app.2015.0001.7

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