„Die undankbarste, die verantwortungsvollste Arbeit des Drehbuchautors, der für Misserfolge zahlt und den Erfolg nie teilt, wurde fast ausschließlich Frauen überlassen“, erinnerte sich der Kritiker Vladimir Korolevič in den 1920er Jahren (Korolevič 1928: 10).1 Die Frauenfilmdramaturgie2 des Russischen Kaiserreichs3 wurde jedoch bereits in den 1910er Jahren in der Presse diskutiert, als die Anzahl der von Frauen verfassten Drehbücher und die Anzahl der Drehbuchautorinnen deutlich zunahmen. Die genaue Anzahl der Drehbücher, die von einer bestimmten Drehbuchautorin stammen, ist schwierig zu benennen. Zum Beispiel schrieb die fruchtbarste Drehbuchautorin des frühen russländischen Kinos Olʹga Blaževič fünfzehn Drehbücher in den Jahren 1916-1917 laut Katalog der „Spielfilme des vorrevolutionären Russlands“ (Višnevskij 1945) von Venʹjamin Višnevskij. Jedoch in ihrem im Russischen staatlichen Archiv für Literatur und Kunst (RGALI) erhaltenen Lebenslauf erwähnt Blaževič zwei weitere Filme, an denen sie als Drehbuchautorin arbeitete: Domik na Volge / Haus an der Volga (Vladislav Starevič, 1917, Russisches Kaiserreich; Višnevskij verzeichnet die Drehbuchautorschaft nicht) und Andrej Kožuchov (Jakov Protazanov, 1917, Russisches Kaiserreich; Višnevskij hält Jakov Protazanov für den Drehbuchautor).4
Das Forschungsproblem, die Filmografien der Drehbuchautorinnen zu rekonstruieren, wird vor allem durch das Fehlen der notwendigen Belege für ihre Arbeit und, in erster Linie, das Fehlen der Drehbücher selbst, verursacht. Das Genre des Drehbuchs im frühen russländischen Kino hatte keine feste Form, und Drehbücher „auf Manschetten“, wie Michail Kušnirovič (1991: 136) sie nennt, wurden nicht veröffentlicht. Nur wenige Drehbücher der zweiten Hälfte der 1910er Jahre wurden in der Zeitschrift des Filmproduzenten Aleksandr Chanžonkov Pegas veröffentlicht. Außerdem war der soziale Status einer Drehbuchautorin / eines Drehbuchautors im Russischen Kaiserreich gering: Ihre Namen wurden selten auf Filmplakaten gedruckt und noch seltener in der Presse erwähnt.
Die ungefähre Statistik, die durch die Auseinandersetzung mit Višnevskijs Katalog von mir herausgearbeitet wurde, zeigt, dass die frühe russländische Frauenfilmdramaturgie sich in zwei Entwicklungsstufen unterteilen lässt: 1910-1913 und 1914-1917.5 Seit 1914 hat sich die Zahl der Filme im Russischen Kaiserreich insgesamt erhöht, und der Anteil der von Frauen verfassten Drehbücher hat sich im Vergleich zur ersten Periode mehr als verdoppelt. In Anlehnung an Višnevskijs Katalog habe ich alle Spielfilme ausgesucht, deren Drehbücher von Frauen geschrieben wurden, und es haben sich insgesamt 111 solche Filme ergeben. Davon sind laut Katalog Velikij kinemo (2002) „Großer Kinemo: Katalog der erhaltenen Spielfilme Russlands (1908-1919)“ nur fünfzehn von Frauen geschriebene Spielfilme erhalten geblieben.
Die ersten Filme, die auf den Drehbüchern von Frauen fußen, wurden 1910 gedreht, das sind sieben Filme, d.h. immerhin 24% aller Spielfilme dieses Jahres. Laut Višnevskijs Katalog wurde ein Film nach weiblichem Drehbuch 1911 (1%) gedreht, ein Film 1912 (1%), und zwei Filme 1913 (2%). Im Jahr 1914 gab es sieben von Frauen verfasste Drehbücher (3 %), 25 im Jahr 1915 (6 %), 40 im Jahr 1916 (8%) und 28 im Jahr 1917 (10 %). Der Prozentsatz der Drehbücher von Frauen betrug 3 % in den Jahren 1910-1913 Jahren und zum Jahr 1917 hat er sich um etwa 4,5 % gesteigert. Insgesamt zeigt die Analyse von Višnevskijs Katalog, dass circa 7% aller Spielfilme von 1907 bis 1917 nach den Drehbüchern von 37 Frauen gedreht wurden, aber u.U. war das Verhältnis um ein Vielfaches größer.
An den Drehbüchern arbeiteten A. Alejnikova, G. Arbrova, Z. Barancevič, N. Bachareva, O. Bebutova, O. Blaževič, Z. Bogdanova, O. Brailovskaja, A. Verbickaja, M. Vlasʹeva, E. Vystavkina, O. Gzovskaja, N. Dennicyna, G. Zapolʹskaja, M. Kallaš-Garris, V. Karalli, K. Morskaja, O. Krestovskaja, Makarova, A. Mar, L. Mirova, E. Nagrodskaja, O. Orlik, A. Panova-Potemkina, O. Preobraženskaja, O. Rahmanova, Rovdo, E. Romanova, N. Rutkovskaja, L. Ryndina, E. Tissova, M. Tokarskaja, T.L. Tolstaja, O. Pyžova, A. Chanžonkova, A. Ščepkina, L. Ščepkina.
Gemäß Višnevskijs Katalog haben viele Drehbuchautorinnen nur ein Drehbuch geschrieben. Unter ihnen sind G. Arbrova, O. Brailovskaja, M. Vlasʹeva, O. Gzovskaja, N. Dennicyna, G. Zapolʹskaja, O. Krestovskaja, K. Morskaja, O. Orlik, O. Pyžova, Rovdo, N. Rutkovskaja, L. Ryndina, E. Tissova, T. Tolstaja, L. Ščepkina. Višnevskij gibt keinen Vornamen für Rovdo an, und die Tatsache, dass Rovdo (ein auf Russisch undeklinierbarer Nachname) eine Frau ist, wird aus der Rezension von Valentin Turkin für den Film nach ihrem Drehbuch Kursistka Tanja Skvorcova / Studentin Tanja Skvorcova (Nikolaj Turkin, 1916, Russisches Kaiserreich) klar. Valentin Turkin (Turkin 1916, № 3: 78) schreibt: „Man muss der Schriftstellerin Gerechtigkeit widerfahren lassen: Sich in der Fabel des Strebens nach einer Anekdote gänzlich entledigend, konnte sie die Handlung mit Momenten schöner und tiefer Psychologie sättigen.“6 Rovdos wahre Identität kann nur vermutet werden. Eine Lehrerin mit dem Namen Antonina Rovdo, deren Personalakte im RGALI aufbewahrt wird, wurde in den 1900er Jahren an der Kaiserlichen Stroganov-Fachschule ausgebildet, wo zur selben Zeit Maria Kallaš, die Drehbuchautorin des Studios Chanžonkov, studierte. Kursistka Tanja Skvorcova wurde von Chanžonkovs Firma gedreht, der Kallaš das Drehbuch von Rovdo hätte empfehlen können. Beweise, die die Bekanntschaft von Kallaš und Rovdo bestätigen, habe ich leider nicht gefunden.
Unter den ständigen Autorinnen der frühen russländischen Filmdramaturgie, die mindestens zwei-drei Jahre arbeiteten und mehr als drei Drehbücher schufen, die bis 1917 verfilmt wurden, können bisher nur wenige genannt werden: Olʹga Blaževič, Anna Mar, Natalʹja Baсhareva, Zoja Barancevič, Antonina Chanžonkova, Olʹga Bebutova. Sobald das Augenmerk auf andere Drehbuchautorinnen gelenkt wird, wird sich diese Liste überraschend erweitern. Bis jetzt bleiben Beiträge der meisten russischen Drehbuchautorinnen der 1910er Jahre wenig untersucht.
Irina Graščenkova (2005) hat in ihrer Monographie „Kino des Silbernen Zeitalters. Das russische Kino der 1910er Jahre und das Kino des russischen nachrevolutionären Auslands der 20er Jahre“ die Schaffenswege einiger Drehbuchautorinnen teilweise wiederhergestellt, darunter bsp. von Anna Mar, Olʹga Blaževič, Olʹga Preobraženskaja, Anastasija Verbickaja. Eine geringe Anzahl von Biografien von Drehbuchautorinnen wurden auf der Webseite des Projekts „Women Film Pioneers Project“ (Columbia University) in den letzten Jahren veröffentlicht: Natalʹja Bachareva, Anna Mar, Olʹga Rachmanova.
Die Schwierigkeit, Beiträge von Frauen zur Regie / Filmproduktion / Filmdramaturgie im frühen Film zu rekonstruieren, ist soziologisch bedingt: Frauen, die mit Männern, die später zu einflussreichen Figuren im frühen russländischen Kino wurden, zusammenarbeiteten, wurden oft schon zu Lebzeiten unterschätzt. So geschah es zum Beispiel mit der Regisseurin Elizaveta Thiemann, die mit Jakov Protazanov an ihrem ersten und letzten Film Uchod velikogo starca / Der Weggang des großen alten Mannes (Jakov Protazanov, Elizaveta Thiemann, 1912, Russisches Kaiserreich) arbeitete. Anna Kovalova und Peter Bagrov betonen:
Uchod velikogo starca ist der einzige offizielle Film in Elizavetas Filmografie, während Protazanov mehr als dreißig Jahre eine herausragende Karriere in Russland, Frankreich und Deutschland genoss. Es ist kein Wunder, dass dieser frühe Film irgendwann allein mit Protazanov in Verbindung gebracht wurde, während Thiemanns Beitrag normalerweise übersehen oder falsch repräsentiert wird (Bagrov, Kovalova 2021).
Ein ähnliches Schicksal hatte auch Antonina Chanžonkova, die von Filmhistorikern am häufigsten im Zusammenhang mit ihrem berühmten Ehemann erwähnt wird, mit dem sie unter dem gemeinsamen Pseudonym Antalek Drehbücher in der zweiten Hälfte der 1910er Jahre schrieb. In einem Brief an Knipper-Čechova vom 7. Juni 1913 beschreibt Kallaš (1913) Antonina Chanžonkova so: „Eigentlich war und ist seine Frau [Chanžonkova] für die künstlerische Seite zuständig [...]. Chanžonkov selbst wandelt auf dem Gebiet der Kunst in vielerlei Hinsicht im Dunkeln.“7 Michele Leigh gibt verschiedene Rollen an, die Chanžonkova beim Filmstudio ihres Mannes spielte, und kommt zu der Schlussfolgerung, die Kallašs Worte bestätigt: „Während ihr [Chanžonkovas] Mann mit der kommerziellen Seite des Geschäfts beschäftigt war, kontrollierte Antonina die kreative Seite. [...] Chanžonkov selbst wäre nicht so erfolgreich gewesen, wenn seine Frau die kreative Seite des Geschäfts nicht so erfolgreich geführt hätte“ (Leigh 2015). In diesem Zusammenhang erscheint es sinnvoll, Genderstudien zu diesem Thema zu berücksichtigen. Es geht um Kirsti Ekonens Buch „Künstler. Subjekt. Frau. Strategien des weiblichen Schreibens im Symbolismus“ (2011) und um Olga Hastys Studie „How Women Must Write: Inventing the Russian Woman Poet“ (2019). Sowohl Ekonen als auch Hasty untersuchen Texterzeugnisse von Frauen und ihre narrativen und diskursiven Strategien, die einen Ausdruck weiblicher Identität ermöglichen und reale Frauen von den weiblichen Stereotypen befreien. Die Methoden von Ekonen und Hasty können auf die Produktionsbedingungen von Filmdramaturgie übertragen und angewandt werden, wo Frauen ebenfalls eine Unterdrückung weiblicher Kreativität erlebt haben.
Heute in Vergessenheit geratene Drehbücher 1907-1913 hatten keine einheitliche literarische Form. Sie wurden normalerweise als eine Synopsis, eine kurze Zusammenfassung des Sujets geschrieben. Sujets der nicht erhaltenen Filme sind uns dank den Libretti (kurzer Filminhalte) bekannt, die in der vorrevolutionären Presse gedruckt wurden (außer Libretti gab es kleine Rezensionen, sowie andere Beschreibungen der Filme in der Presse).8 Aus diesem Grund wissen wir über die Arbeit der Drehbuchautorinnen der ersten Entwicklungsstufe (1910-1913) leider wenig. Wir kennen nicht einmal den Vornamen und Vatersnamen der ersten russländischen Drehbuchautorin Makarova, die in einigen Quellen Makarov (der russische Nachname mit einer männlichen Endung) genannt wird.
Makarova wird im Katalog „Kino in Russland (1896-1926)“ von Boris Lichačev (1927: 72) erwähnt: „Gaumont versucht auch, mit russischen Regisseuren zusammenzuarbeiten, [...] und lädt Gončarov ein, der mit Makarova folgende Filme dreht: 1) ‘Napoleon in Russland’ [...].” Die Initialen der Drehbuchautorin führt Lichačev nicht an. Genauso wie Lihačev gibt auch Višnevskij Makarova weder in seinem Katalog noch auf den Karteikarten seiner im Staatlichen Archiv der Filme Russlands (Gosfil’mofond) aufbewahrten Kartothek einen Vornamen oder Vatersnamen. Und Georges Sadoul erwähnt in dem Buch „Geschichte der Filmkunst“ den Regisseur Makarov, der mit Gončarov zusammen arbeitete. Andere Informationen zu der Makarov(a)-Karriere liefert Sadoul jedoch nicht.
Nach den Drehbüchern von Makarova und Gončarov, die auch die Regisseure der Filme waren, wurden 1910 Verfilmungen (General Toptygin nach dem gleichnamigen Gedicht von Nikolaj Nekrasov und Prestuplenie i nakazanie / Schuld und Sühne nach dem Roman von Fjodor Dostoevskij), Filme nach volkstümlichen Motiven (Deduška Moroz / Großvater Frost, Kavkazskaja pastuška / Kaukasische Schäferin) und historische Spielfilme (Žiznʹ i smertʹ A.S. Puškina / Leben und Tod von A. S. Puškin, Napoleon v Rossii / Napoleon in Russland, Paschalʹnaja kartinka / Österliches Bild) gedreht, die den Tendenzen des russländischen Kinos der 1900-1910er Jahre mit seiner Orientierung an Literatur, Folklore und nationale Geschichte folgten. Lichačev (1927: 72) bemerkt: „Diese Filme haben Gončarov auf die Position des ersten russischen Profis im Bereich Regie der historischen Spielfilme gebracht.“ Demzufolge wurde Gončarov ein berühmter Regisseur, während der Vorname und sogar das Geschlecht von Makarova / Makarov immer noch unbekannt bleiben.
Dieses Paradoxon mit der ungleichen Verteilung des „symbolischen Kapitals“ (Pierre Bourdieu) zwischen zwei Koautoren unterschiedlicher Geschlechter ist durch die kulturellen und historischen Gendermuster im Russischen Kaiserreich bestimmt.
Einen großen Einfluss auf die russländische Kultur 1900-1910 hatte die Poesie des russischen Modernismus. Einige Drehbuchautorinnen waren mit den Dichtern des Modernismus bekannt. Beispielsweise besuchten Elena Vystavkina und Anna Mar literarische Abende von Valerij Brjusovs Schwägerin Bronislava Runt. Lidija Ryndina war die Lebensgefährtin und später die Frau von Sergej Sokolov, der einen der wichtigsten Verlage für Symbolisten “Grif” gründete. Russländische Dichter interessierten sich für ‘Frauenpsychologie’ und waren mit den Werken von den Pionieren der Sexologie wie Otto Weininger, Richard Kraft von Ebbing, Leapold von Sacher-Masoch u.a. bekannt. Wie Kirsti Ekonen bemerkt, kam das Interesse an der Frau im russischen Symbolismus nicht aus dem Bereich der Psychologie und Sexualität sondern aus dem Bereich der Metaphysik:
Der von Vladimir Solovʹev vorgenommene Vergleich einer Frau mit einem Sack illustriert sehr präzise, was der Begriff Feminität im ästhetischen Diskurs des Symbolismus bedeutete; [...] im Symbolismus ist der Referent des Zeichens keine Frau, sondern ein ästhetisches Projekt (2011: 102).
Ekonen folgt den feministischen Studien des Postmodernismus von Luce Irigaray, Judith Butler u.a. und betont die Hochstilisierung des Weiblichen zur Metapher für das Chaotische und Unbewusste in den Texten der russischen Dichter des Symbolismus. Laut Ekonen wurden die Konzepte „der Dichter“ und „die Dichterin“ durch die binäre Opposition aktives männliches Subjekt / passives „feminines Element“ betrachtet (2011: 102). Mit anderen Worten konnte eine Autorin, im Gegensatz zu einem Autor, ihr kreatives Ich kaum beanspruchen. Deshalb waren, wie Olga Hasty (2019: 70) schreibt, die mythischen Dichterinnen, die von männlichen Autoren erfunden wurden, Čerubina de Gabriak (Maximilian Vološin und Elizaveta Dmitrieva) und Nelly (Brjusov) einflussreicher als reale Dichterinnen und „ein Gedicht von einer Frau wurde weiterhin als Informationsquelle über ihre Autorin und nicht als eigenständiges Artefakt angesehen.“
Für Autorinnen war es notwendig, eigene Erzähl- und Verhaltensstrategien zu finden, um das hierarchische Denken durchzubrechen. Ein bekanntes Beispiel sind die zahlreichen männlichen Pseudonyme von Zinaida Gippius. Elizaveta Thiemann veröffentlichte Übersetzungen der Geschichten von Vladimir Korolenko ins Deutsche unter dem männlichen Pseudonym Heinrich Harff. Das Spiel von Gippius wurde vor allem vom symbolistischen Ideal des androgynen Dichters inspiriert, und das männliche und darüber hinaus deutsche Pseudonym von Thiemann wurde offensichtlich benutzt, um ein Bild von einem Übersetzer, der die Sprache beherrscht und seine Arbeit professionell erledigt, zu schaffen. In beiden Fällen geht es um die Ablehnung konventioneller Frauenbilder als einer Verhaltensstrategie der Konstruktion des kreativen Ichs.
In der Geschichte des frühen russländischen Kinos wurden weibliche Namen durch die entsprechenden männlichen Formen oder sogar durch völlig andere Namen ersetzt, oftmals nicht dem Willen der Autorin entsprechend. Olʹga Preobraženskaja, die sich als die erste russländische Regisseurin bezeichnet, erinnert sich:
Meine erste Arbeit in der Regie war Fräulein Bäuerin nach Puškin... Alles hat geklappt, der Film wurde sehr gelobt, aber da es die erste Regieführung einer Frau war, wurde sie misstrauisch aufgenommen und oft wurde auf Plakaten und in Rezensionen mein Nachname mit einer männlichen Endung geschrieben oder meine Arbeit wurde Anderen zugeschrieben... (Graščenkova 2005: 281).9
In seinen Memoiren erwähnt Chanžonkov Autoren, die er zur Zusammenarbeit einlud, und dekliniert den Nachnamen der Schriftstellerin Anna Mar als einen männlichen:
Ich hielt mit meinen französischen Gegnern Schritt und unterzeichnete sofort Verträge mit Averčenko, Dymov, Fedor Sologub, Tèffi, Cenzor, Amfiteatrov, Čirikov, Kuprin, Manyč-Tavričanin, Leonid Andreev, Lazarevskij, A. Mar (А. Маром <sic!>) (Chanžonkov 1937: 64).10
Laut Višnevskijs Katalog kam 1911 nur ein Film nach dem Drehbuch von einer Frau heraus. Es geht um den ethnographischen Film Krestʹjanskaja svadʹba / Bauernhochzeit (Tatʹjana Suchotina-Tolstaja, 1911, Russisches Kaiserreich) von Lev Tolstojs Tochter Tatʹjana Suchotina-Tolstaja, die bei diesem Film auch die Regie führte. Višnevskij (1945: 11) verweist auf den rund um diesen Film in der Presse geschaffenen Mythos:
Der Film ist eine Aufnahme des altertümlichen bäuerlichen Brauchs der russischen Hochzeit unter Einbeziehung der Bauern aus dem Landgut von Tatʹjana Suchotina-Tolstaja, die die eigentliche Autorin ist (die Autorschaft wurde fälschlich Lev Tolstoj zugeschrieben; er war bei mehreren Dreharbeiten anwesend und gab vielleicht einzelne Tipps und Hinweise, aber er konnte weder die Regie noch die Produktion leiten und sah nicht einmal den fertiggestellten Film).
Die Presse hielt Lev Tolstoj, für den Drehbuchautor sowie den Regisseur des Films und nannte den Film „das letzte Werk von Leo Tolstoj“ (Vestnik kinematografii 1911, № 7). Der Chefredakteur der Kino-Zeitschrift Sine-Fono S. Lur’e (1939: 716) behauptet, dass die Inszenierung von Tolstaja stammte:
Tatiana Lʹvovna hat darauf hingewiesen, dass im Gouvernement Tula bisher noch die altrussischen Kostüme erhalten sind und festgehalten werden sollten. Sie schlug Drankov vor, ihr Landgut zu besuchen, wo sie eine Reihe interessanter Szenen aus dem Leben der Bauern zu arrangieren versprach.
Des Weiteren bestätigt das Tagebuch der Frau des Schriftstellers Sofʹja Tolstaja, dass Tolstoj bei den Dreharbeiten dabei war: „Am 8. September. Ich bin in Kočety ruhiger angekommen, und jetzt wieder alles von vorne. […] Drankov hat uns wieder fürs Kino aufgenommen und dann die bäuerliche Hochzeit, die speziell gespielt wurde, gedreht [...]“ (1978: 198). Es ist offensichtlich, dass Suchotina-Tolstaja wie auch Makarova von ihren Zeitgenossen nicht als selbständige Autorinnen wahrgenommen wurden.
Zu Beginn der 1910er Jahre war der Beruf der Drehbuchautorin noch nicht in der Weise etabliert, wie er schon in naher Zukunft sein wird. Die Konstitution weiblicher Identität in der ersten Entwicklungsphase der Frauenfilmdramaturgie wurde durch die abhängige Position von Frauen in der Kunst und durch die Koautorschaft mit Männern erschwert. Das Drehbuchschreiben, wurde nicht als Beruf einer Frau anerkannt oder war nicht bekannt. Daher wurde weibliche Autorschaft weder rechtlich noch anderweitig dokumentiert und folglich automatisch einem Mann zugeschrieben. Dies ist auch einer der Gründe, warum wir über die ersten Drehbuchautorinnen des frühen russländischen Kinos so wenig wissen.
In den 1910er Jahren stieg die Zahl der Autorinnen deutlich an. Schriftstellerinnen und Dichterinnen erhielten dank der Entstehung neuer Medien (Zeitschriften und Verlage) mehr Möglichkeiten, sich ein Einkommen zu sichern. Zu dieser Zeit rückt die Frauenliteratur ins Zentrum des „literarischen Feldes“ (Pierre Bourdieu): 1913 wurde laut Umfragen von Lesern und Leserinnen der Bibliotheken Anastasija Verbickaja zur beliebtesten Autorin (Rejtblat 2009: 282). Der Erfolg von Verbickaja als Drehbuchautorin folgte ihrem Erfolg als Schriftstellerin auf dem Fuß. Die „Thiemann & Reinhard“-Produktion Ključi sčastʹja / Schlüssel zum Glück (Vladimir Gardin, Jakov Protazanov, 1913, Russisches Kaiserreich) nach dem gleichnamigen Roman wurde zum Film mit den höchsten Einnahmen der 1910er Jahre. Es liegt nahe, dass ausgerechnet der Erfolg des Konkurrenten Chanžonkov 1914 veranlasste, Frauen (und zwar Schauspielerinnen in seinem Filmstudio), einzuladen, um Drehbücher zu schreiben.11 „Chanžonkov wusste wie kein Zweiter, dass sie [Frauen] Wünsche und Ansprüche des weiblichen Publikums empfinden und [...] in der Lage sind, sie zu formulieren und in Drehbüchern der besonderen Art zufriedenzustellen“, hebt Irina Graščenkova (2005: 210) hervor. In den 1910er Jahren war es üblich, die Frauenliteratur als eine neue Perspektive in der Kunst zu betrachten, da Kritiker und Autoren selbst von ihren besonderen Eigenschaften überzeugt waren. Zum Beispiel behauptet der Dichter Maximilian Vološin (1910): „In mancher Hinsicht ist diese weibliche Poesie interessanter als die männliche. Sie ist weniger mit Ideen belastet, aber tiefer und weniger verschämt.“12
Für die aufgrund der Ključi sčastʹja intensivierten Konkurrenz zwischen Chanžonkov und Thiemann liefert ein Brief von Maria Kallaš an Olʹga Knipper-Čechova vom 7. Juni 1913 Beweise:
Elektrische Theater besucht ein besonderes Kontingent von Zuschauern mit bestimmten Ansprüchen, und um diese zu erfüllen, kaufen unsere Moskauer Kinofirmen Verbickajas Ključi sčastʹja [...]. Ständig auf der Suche nach neuen Wegen sind Chanžonkov und Chanžonkova schon am Ende ihrer Kräfte. Sie wandten sich an alle unsere zeitgenössischen „berühmten“ Schriftsteller, verteilten mehrere zehntausend Vorschuss an alle (Kallaš 1913).13
Der steile Anstieg der Zahl weiblicher Drehbücher im Jahr 1914 deutet darauf hin, dass die Frauenfilmdramaturgie einer dieser neuen Wege wurde.
Allerdings bleibt es bis jetzt ein Rätsel, wer das eigentliche Drehbuch für Ključi sčastʹja verfasste. Laut Višnevskij wurde das Drehbuch von Verbickaja in Koautorschaft mit V. Toddy (Vladimir Volʹberg) geschrieben. Natal’ia Nusinova hat auf die Aussage eines der Filmregisseure Vladimir Gardin hingewiesen, für den Ključi sčastʹja sein Debütfilm war: „Ich begann am Theaterstück und am Drehbuch für Ključi sčastʹja gleichzeitig zu arbeiten“ (Nusinova 2017: 226). Die Zeitgenossen jedenfalls betrachteten Verbickaja als Drehbuchautorin. Gardins Memoiren zufolge benutzten die Filmverleiher den Namen der berühmten Schriftstellerin zu Werbezwecken:
Der Besitzer selbst hat für die Produktion Werbung gemacht, ohne die Namen seiner Mitarbeiter zu nennen (wenn jemand unsere Namen kennen würde, würde man uns abwerben) [...]. Ich habe meinen Namen (den Namen des Drehbuchautors und des Regisseurs dieses Films) nicht einmal in den Anzeigen gelesen. Und die Kinoproduzenten zögerten nicht zu schreiben: „[...] beeilen Sie sich, sich Ključi sčastʹja von A. Verbickaja anzusehen“ (1949: 37).14
Laut Višnevskijs Katalog schrieb Verbickaja weitere Drehbücher: 1915 erschien die Verfilmung von ihrem Roman Andrej Tobolʹcev (Andrej Andreev, 1915, Russisches Kaiserreich), 1916 kam noch eine Verfilmung nach dem gleichnamigen Roman der Schriftstellerin Čʹja vina / Wessen Schuld (Andrej Andreev, 1916, Russisches Kaiserreich) und 1917 wurde der zweite Versuch einer Verfilmung von Ključi sčastʹja, Pobediteli i pobeždennye / Die Sieger und die Besiegten (Boris Svetlov, 1917, Russisches Kaiserreich) gedreht. Verbickaja schrieb keine Originaldrehbücher, ebensowenig wie Evdokija Nagrodskaja, die laut Višnevskij die Autorin der Filme Anja (Aleksandr Uralʹskij, 1915, Russisches Kaiserreich), Belaja kolonnada / Weiße Kolonnade (Vjačeslav Viskovskij, 1915, Russisches Kaiserreich), Vedʹma / Die Hexe (Aleksandr Panteleev, G. Bogdanov, 1916, Russisches Kaiserreich) war, die auf ihren Romanen basieren. Allerdings steht Nagrodskajas Autorschaft wie in Verbickajas Fall auch in Frage.15 In einem Artikel schreibt Nagrodskaja:
Ich weiß nicht, was der Drehbuchautor fühlt, aber der Schriftsteller muss sich sehr seltsam fühlen. Als ich eine Verfilmung meines Romans sah und als erste Figuren erschienen, wollte ich ausrufen: „Aber das sind sie doch nicht! Sie sind doch anders“. Ich habe mir meine Figuren zu klar vorgestellt (Nagrodskaja 1915: 5).16
Verbickajas Film über eine Frau, die in der Wahl ihrer Liebhaber und in der Berufswahl frei und auf der Ballettbühne erfolgreich ist, weckte bei Kritikern und Zuschauern bestimmte Erwartungen von den Filmen von Frauen. Nusinova stellt zu Recht fest, dass der Film neue Aufgaben für Filmemacher einführte: melodramatische Emotionalität, Fokus auf den Zuschauern und die moderne Welt. Drehbuchautoren und -autorinnen der zweiten Hälfte der 1910er Jahre beschäftigten sich tatsächlich in erster Linie mit modernen Liebesdramen. Wie Neja Zorkaja zeigt, wurde in den 1910er Jahren „ein typisches russisches Filmsujet“ (meist melodramatisch) entwickelt, das eine Reihe sich wiederholender „Funktionen“ (im Sinne von Vladimir Propp) enthält (zum Beispiel, ‘Versuchung’, ‘Reue’, ‘Fälschung’, ‘Vergeltung’ u.a.). Trotzdem scheinen nicht-melodramatische Sujets in der Frauenfilmdramaturgie angesichts der Vielfalt anderer Sujets in der Männerfilmdramaturgie Ausnahmen zu sein. Darunter sind Alejnikovas Komödien (1915), Seriozin (unbekannte Regisseure, 1915, Russisches Kaiserreich) von A. Ščepkina, Arkaša – sportsmen ili dlja ljubvi pregrady net / Athlet Arkaša, oder die Liebe kennt keine Grenzen (Aleksandr Uralʹskij, 1917, Russisches Kaiserreich) von Vystavkina und Komnata № 13 ili Arkaške ne vezet / Zimmer Nummer 13 oder Arkaška hat Pech (A. Ivonin, 1917, Russisches Kaiserreich) von Vlasʹeva, Verfilmungen des russischen literarischen Kanons Obryv / Die Schlucht (Petr Čardynin, 1913, Russisches Kaiserreich), Bela (Andrej Gromov, 1913, Russisches Kaiserreich) von Kallaš, Baryšnja-krestʹjanka von Preobraženskaja und Kriegsdramen von Bebutova (Ognem i krovʹju / Mit Feuer und Blut (Mihail Martov, 1914, Russisches Kaiserreich), Pod grom orudij / Unter dem Donner der Waffen (unbekannte Regisseure, 1914, Russisches Kaiserreich).
Die Ballerina, die Tänzerin und die Sängerin sind zentrale Figuren der Frauenfilmdramaturgie der zweiten Hälfte der 1910er Jahre. Rachel Morley skizziert die Entwicklung der Performer-Figur im Kontext des frühen russländischen Kinos in ihrem Buch Performing Femininity: Woman as Performer in Early Russian Cinema (2017). Wie Morley (2017: 137) behauptet, ist die Ballerina „ein machtvolles Kultursymbol und Vorbild der Weiblichkeit, das in Russland seit den 1830er Jahren vorherrschte und ein Kultobjekt im sozialen und kulturellen Leben Russlands darstellte […].“ Diese Darstellerin erschien zum ersten Mal in Ključi sčastʹja und dann in den folgenden Filmen nach weiblichen Drehbüchern: Ljulja Bek (Evgenij Bauèr, 1914, Russisches Kaiserreich) von Anna Mar, Tajna velikosvetskogo romana / Das Geheimnis der High-Society-Affäre (Aleksandr Panteleev, 1915, Russisches Kaiserreich) von Natalʹja Bachareva, Mara Kramskaja (Vladimir Izumrudov, 1915, Russisches Kaiserreich) von Olʹga Gzovskaja, Rodnye duši / Seelenverwandte (Petr Čardynin, 1915, Russisches Kaiserreich) von Vera Karalli, Beskrovnaja duèlʹ / Unblutiges Duell (Boris Čajkovskij, 1916, Russisches Kaiserreich) von Olʹga Brailovskaja, Ženščina s dušoju kurtizanki / Die Frau mit der Seele einer Kurtisane (Aleksandr Garin, 1917, Russisches Kaiserreich) von Olʹga Blaževič, Umirajuščij lebedʹ / Der sterbende Schwan (Evgenij Bauèr, 1917, Russisches Kaiserreich) von Zoja Barancevič und andere. „Sie [die Hauptfigur der Frauenfilmdramaturgie] soll sowohl eine talentierte Tänzerin als auch eine wunderbare Reiterin und eine unerreichbare Gräfin und Matreška vom Chitrov-Markt, und dabei noch tugendhaft wie ein Engel sein“, schrieb der Pegas-Rezensent Granitov (1915, № 2: 66) und kritisierte Gzovskaja und Karalli für ihre Hauptfiguren in den Filmen Mara Kramskaja und Rodnye duši, in denen die Drehbuchautorinnen auch die Hauptrollen selbst spielten.17
Drehbuchautorinnen des frühen russländischen Kinos waren wie ihre Hauptfiguren selbst Darstellerinnen und nicht nur buchstäblich, wie die Schauspielerinnen Karalli und Gzovskaja. Die Frauenfilmdramaturgie, die unter der Beeinflussung von Ključi sčastʹja erschien, charakterisiert Korolevič als „typische weibliche sexuelle Szenarien“18:
Die Voreingenommenheit der Epoche, der Wissens- und Gefühlsstand einer Frau, die in einen Käfig aus Gewohnheit und Vorurteilen eingeschlossen war, war kleinlich und eng, daher kam die engstirnige Sichtweise in der Sphäre der Dramaturgie. Die Frau wurde in ein erotisches Spielzeug verwandelt (Korolevič 1928: 14).19
Mit anderen Worten wurden die Drehbuchautorinnen zu Geiseln der Erwartungen von Zuschauern und Kritikern oder, metaphorisch gesagt, zu Performerinnen, die das Publikum unterhalten sollten. Die Dramatikerin Izabella Grinevskaja formulierte diese Erwartungen folgenderweise:
Es [das Kino] braucht alle Ihre „warum“, „wofür“, „weshalb“, alle diese „verdammten Fragen“ nicht [...]. Es braucht nichts, was […] männliche Kreativität auszeichnet. [...] Die meisten Frauen interessieren sich nicht für Fragen des Lebens, sondern für die Märchen vom Leben, mal beängstigende, mal bittere und traurige, mal zärtliche, mal bizarr verlockende. Und solche Märchen passen zum neuen Priester der menschlichen Unterhaltung am besten (Grinevskaja 1916, № 3: 6).20
Ključi sčastʹja wiederholt außerdem das Sujet von Aschenputtel. Alla Gračeva (1994: 106) bemerkt: „Darin [in Verbickajas Roman] erzählt die Schriftstellerin das Märchen Aschenputtel neu: wie das arme Mädchen Manja Elʹcova den ‘Prinzen’ – den reichen Mann Markus Steinbach traf.“
Verbickajas Film lieferte den Filmemachern neue Themen und Motive, prägte die Erwartungen des Publikums von der Frauenfilmdramaturgie, aber gleichzeitig zeigte er, dass eine Frau fähig ist, Drehbücher unabhängig von Männern zu schreiben. Fast alle Drehbuchautorinnen der zweiten Hälfte der 1910er Jahre, mit Ausnahme von Antonina Chanžonkova, arbeiteten selbständig. Der Film Ključi sčastʹja bestätigte, dass eine Frau im Bereich des Films eine kreative Autorin sein kann. Wahrscheinlich wurde Elizaveta Thiemann deshalb von ihren Zeitgenossen nicht als erste Regisseurin wahrgenommen, da sie 1912 in dieser Rolle zu früh auftrat. Erst 1917 nahm Olʹga Preobraženskaja, deren Weg im Kino mit Ključi sčastʹja begann (sie spielte die Hauptrolle von Manja Elʹcova), als erste anerkannt den Platz einer Regisseurin im Russischen Kaiserreich ein. Das Schicksal von Frauen in der frühen russländischen Filmregie ist ein eigenes Thema; bevor Frauen ihre verdrängte Identität in der Regie in die eigene Hand nehmen konnten, hatten sie sie dennoch in der Filmdramaturgie konstituiert.
Nicht alle Drehbuchautorinnen folgten den Themen und Motiven von Ključi sčastʹja. Unter ihnen war die Literaturkritikerin Maria Kallaš-Garris, die Verbickaja in ihren Briefen und Essays mehrmals kritisierte:
[...] wenn die Zeitungsschreiber sagen, es sei besser, Turgenev als Verbickaja auf der Kinoleinwand zu sehen, werden sich alle Turgenev ansehen. Es wird akzeptiert und wird in Kraft treten, und mit der Zeit werden sie sich daran gewöhnen, vielleicht werden sie herausfinden, dass Turgenev besser als Verbickaja ist… (Kallaš 1913).21
Kallaš schlug Drehbuchautoren und -autorinnen vor, sich Verfilmungen russischer Literatur zu widmen. Verfilmungen waren für das frühe russländische Kino nicht neu, und Kallaš setzte eher die Tendenzen des Drehbuchschreibens der 1910er Jahre fort, denen Makarova und Tolstaja auch gefolgt waren. Ein Unterschied zwischen Kallaš und den ersten Drehbuchautorinnen besteht jedoch darin, dass Kallaš selbst an Drehbüchern für Verfilmungen arbeitete und in diesem Sinne eine Pionierin war. Nach Kallašs Drehbüchern wurden drei Filme gedreht: Obryv nach Ivan Gončarov, Bela nach Michail Lermontov und Teni grecha / Schatten der Sünde (Petr Čardynin, 1915, Russischer Kaiserreich) nach Aleksandr Amfiteatrov.22
Maria Kallaš verteidigte russländische Klassiker des 19. Jahrhunderts und glaubte, dass die Kinematografie eine Verbindung mit „wahrer Kunst“ brauchte:
Das Problem ist, dass auf diesem Gebiet die Technik vor der Kunst entstanden ist und eine ganze Reihe von Unternehmern die Kinoleinwand in die Hände gekriegt hat. Um es ganz offen und grob zu sagen, sie haben das Kino dank des anspruchslosen Geschmacks unseres Publikums mit ihren Betrügereien einfach beschmutzt (Kallaš 1913).23
Der Versuch, sich mit dem männlichen Kanon (anerkannter Kunst) zu assoziieren, ist eine bekannte Strategie von Schriftstellerinnen. Wie Hasty (2020: 54) zeigt, definiert im Gedicht Bloknot Puškina / Puškins Notizbuch (1838) „Evdokija Rastopčina mehr als ihre Position im poetischen Kanon“: „Wie sie [Rastopčina] es präsentiert, hängt die russische poetische Tradition jetzt von ihr ab.“ Kallaš setzt die literarische Tradition nicht fort, aber sie bezeichnet dadurch ihren eigenen Platz in der Filmdramaturgie als bedeutsam, da das Kino, wie Kallaš glaubt, Kunst werden kann, wenn es von der Literatur lernen wird. Darüber hinaus illustriert die Tatsache, dass Kallaš vorschlägt, Ključi sčastʹja durch die Verfilmungen zu ersetzen, und dann das Drehbuch für Gončarovs Obryv selbständig schreibt, ihren Ehrgeiz, ihre eigene besondere Position in der Filmdramaturgie zu finden und einzunehmen.
Dennoch war Kallašs Kritik an Verbickaja nicht nur eine Diskussion der Technik des Drehbuchschreibens. Es geht auch um Rezeption von Frauenliteratur und Frauenautorschaft insgesamt. Im Essay „Ženskie kabare“/„Frauenkabarett“ stellt Kallaš (1916: 12) fest, dass das gestiegene Interesse an Frauenliteratur unter ihren Zeitgenossen leider nicht als Ergebnis des Kampfes für Frauenrechte angesehen werden kann:
Die Menschenmenge [Kabarett-Zuschauer] hört ihr [einer Dichterin] eifrig zu, und mit diesem aufmerksamen Zuhören ermutigt sie die Dichterin fortzusetzen, und beweist damit deutlich, dass das Intimste im Leben einer Frau für sie um ein Vielfaches interessanter ist, als die Anerkennung ihrer Identität und die Anerkennung ihrer Bürgerrechte.24
Nach Kallaš enthalten Verbickajas Werke „keinen einzigen Tropfen von der Suche nach Freiheit oder ernsthaftem Respekt vor der Frauenemanzipation“ (Kallaš 1916: 12).25 Mit anderen Worten bemerkt Kallaš, dass das Interesse für Frauenliteratur aus der populären Hochstilisierung des Weiblichen, die Ekonen bezüglich des russischen Symbolismus beschreibt, entsteht, und dass Verbickaja wie eine Dichterin in einem Kabarett dieses Interesse erfüllt, deswegen enthält Kallašs Kritik an Verbickaja unter anderem eine Problematisierung des kulturell zugewiesenen Ortes des Weiblichen in der Kunst.
Darüber hinaus problematisiert Kallaš den Mangel an Erzählstrategien in Frauenliteratur, die das gewohnheitsmäßige hierarchische Denken durchbrechen könnten:
Verstehen die Frauen selbst etwa wirklich nicht, dass sich die Menschenmenge für sie unter einem besonderen Blickwinkel im Bereich sexueller Probleme aller Art interessiert und sich ihre Gedichte wie ein Gerichtsverfahren voller riskanter Details anhört? […] Die ganze Grässlichkeit besteht darin, dass die Frau sogar in ihrer Befreiung ihrem Herrn den Sklavenpfad entlang folgen will. Und sie merkt es nicht einmal (Kallaš 1916: 13).26
Kallaš (1916: 13) beendet ihr Essay mit einem Abschiedswort für Autorinnen: „Wir bräuchten mehr echte Freiheit, mehr Selbstachtung und weniger von diesem öffentlichen entblößenden Entschnüren. Es demütigt die Frauen nur. Die Talentiertesten von uns sollten darüber nachdenken.“27
Maria Kallaš schrieb 1913 das erste Drehbuch Obryv unmittelbar nach dem Erscheinen von Ključi sčastʹja, dementsprechend kann ihr Film als Reaktion auf Verbickajas Film betrachtet werden.28 In diesem Kontext wurde das Genre der Verfilmung von Kallaš nicht nur gewählt, weil sie die Kinematografie literaturzentriert sehen wollte. Ein auf einem literarischen Werk beruhendes Drehbuch von einer Frau ermöglicht es der Autorin, im Gegensatz zu den originalen weiblichen Drehbüchern, nicht durch das Prisma des von ihr geschriebenen und angeblich auf ihren persönlichen Erlebnissen basierenden Textes wahrgenommen zu werden, sondern eine realistische Einschätzung und zugleich auch eine berufliche Anerkennung zu erhalten.
Es lässt sich nur vermuten, warum Kallašs Karriere, die fast mit einem Manifest der neuen Frauenliteratur begann, so schnell zu Ende ging. Wahrscheinlich war einer der Gründe die Konkurrenz zwischen Chanžonkov und Thiemann, die einen kommerziellen Charakter hatte: 1913 begann die Firma „Thiemann und Reinhard“, eine Reihe von Verfilmungen der russländischen Literatur Russische goldene Reihe zu drehen, während Chanžonkovs Studio den Film Obryv als „ersten Film aus einer Reihe nach den Werken von russischen literarischen Klassikern“ präsentierte (Kallaš 1913). Dieser Umstand ließ Kallaš kaum Zeit, das Drehbuch vorzubereiten, denn man musste den Konkurrenten voraus sein. „Leider konnte dieser Arbeit [dem Drehbuchschreiben] nur sehr wenig Zeit gewidmet werden, angesichts der Eile, die durch das Filmbusiness auferlegte Pflichten verursacht wurde [...]“, schreibt Kallaš an Knipper-Čechova (1913).29 Trotz der Überzeugung von Maria Kallaš, dass die Kinoleinwand kein Mittel zur Geschäftemacherei, sondern echte Kunst sein sollte, verwandelten sich ihre Drehbücher in ein Instrument des kommerziellen Kriegs zwischen zwei großen Filmproduzenten.30
Ein weiterer Grund für das frühe Ende von Kallašs Karriere könnte in der Diskrepanz zwischen ihren Filmen und den Erwartungen der Zuschauer liegen, die Verbickajas Film hervorgerufen hatte, dessen Einfluss auf die Frauenfilmdramaturgie ziemlich stark war. Die Verbindung mit dem männlichen literarischen Kanon in der Frauenfilmdramaturgie auf ihrer zweiten Entwicklungsstufe konnte der Drehbuchautorin nur schaden. „Man muss eines bedauern, dass Frauen in ihren Überlegungen in die Fußstapfen der Männer treten wollen und die reinen und klaren Pfade der Geschichtenerzählerinnen unserer goldenen Kindheit in ihren Absichten vergessen“, schreibt Grinevskaja (1916: 6).31 Nicht zufällig gibt es also wenig Verfilmungen unter den russländischen vorrevolutionären Filmen nach weiblichen Drehbüchern.
In den frühen 1920er Jahren emigrierte Maria Kallaš nach Frankreich, wo sie sich für den Rest ihres Lebens der Religion widmete und theologische Artikel veröffentlichte. Der Fall der Drehbuchautorin Kallaš ist ein Beispiel für die Konfrontation mit den in der Kunst herrschenden Genderstereotypen und ein Beispiel für den Versuch einer Konstitution der Subjektposition einer Frau in Filmdramaturgie.
Maria Kallašs Essay „Frauenkabarett“ erschien 1916 in der kleinen Frauenzeitschrift Ženskaja žiznʹ („Frauenleben“), wo ein Jahr früher die Erzählung “Platoničeskaja ljubovʹ” / “Platonische Liebe”, ein Entwurf für einen der skandalösesten Romane der 1910er Jahre im Russischen Kaiserreich Ženščina na kreste / Frau am Kreuz (1916), von Anna Mar veröffentlicht wurde. 1914 lud Chanžonkov Mar ein, um Drehbücher für sein Studio zu schreiben. Mar begann ihre Karriere im Kino wie ihre Kolleginnen Schriftstellerinnen (Verbickaja, Nagrodskaja, Bebutova) mit einer Verfilmung ihres eigenen Textes: 1914 kam ihr erster Film Ljulja Bek nach der gleichnamigen Geschichte, die 1912 in Mars zweiten Sammelband Nevozmožnoe / Das Unmögliche veröffentlicht wurde. Allerdings ist Ljulja Bek die einzige Verfilmung in Anna Mars Filmografie, in der andere zwölf Filme nach ihren Originaldrehbüchern gedreht wurden. 1916 gewann Mar den ersten Drehbuchwettbewerb im Russischen Kaiserreich mit ihrem Drehbuch Serdce, brošennoe volkam / Das den Wölfen vorgeworfene Herz (Arnolʹd Šifman, 1917, Russisches Kaiserreich).
Korolevič (1928: 13) teilt die Drehbuchautorinnen der 1910er Jahre in zwei Gruppen ein – Anastasija Verbickaja und ihre Anhängerinnen auf der einen, Anna Mar und ihre Nachfolgerinnen auf der anderen Seite: „Der Stil von Anna Mar und ihren Nachfolgerinnen beeinflusste das russische Kino.“33 Laut Korolevič „verliefen unter dem Einfluss von Mar mehrere Phasen des Kinos der russischen Vergangenheit“ (Korolevič 1928: 12-13).34 Unter den Anhängerinnen von Mar nennt er Olʹga Orlik, Olʹga Blaževič, Zoja Barancevič, Vera Karalli und Olʹga Rachmanova. Korolevič selbst erklärt nicht, warum sie einer separaten Gruppe zugeordnet werden sollten.
Diese Autorinnen arbeiteten in derselben Zeitspanne von 1914 bis 1917, und es ist ziemlich schwer einzuschätzen, ob sie tatsächlich Nachfolgerinnen von Mar waren oder nicht. Ein Beispiel ist Barancevičs Umirajuščij lebedʹ, dessen Finale das Ende von Mars Smerč’ ljubovnyj / Tornado der Liebe (Evgenij Bauèr, 1916, Russisches Kaiserreich) wiederholt: Künstler benutzen Tote als Modelle, um Kunstwerke zu schaffen. Es kann jedoch auch Evgenij Bauèr sein, der von Mars Drehbuch inspiriert wurde, weil er in beiden Fällen Regie führte. Ein mächtiger Regisseur wie Bauèr, der viel mit Mars Drehbüchern arbeitete, machte ohne Erlaubnis der Drehbuchautoren und -autorinnen Änderungen in der Filmhandlung. Darüber beklagte sich Mar (1916, Pegas) mehrmals in der Presse: „Filmemacher benutzen meinen Namen, aber nicht mein Drehbuch.“35 Smerč’ ljubovnyj schätzte Mar (Turkin 1916) auch niedrig ein: „Der Gedanke und das Thema des Drehbuchs werden bis zur Unerträglichkeit verzerrt. Die wichtigsten Zwischentitel fehlen [...]. In Nr. 3 der Zeitschrift Pegas kann man mein Drehbuch lesen und leicht erkennen, dass ich gar nicht so dumm und lächerlich unaufrichtig bin, wie Zuschauer über mich denken müssen.“36 Die Meisten der erhaltenen Zwischentitel für den Film dienen als Hinweise auf Zeit und Ort, sie repräsentieren die Komplexität der Dialoge und der Handlungsmotive, die Mar in ihrem Drehbuch schuf, nicht (Andreeva, Šmulevič 2022). Also wurde ein von Frauen geschriebenes Drehbuch in der zweiten Hälfte der 1910er Jahre oft von den männlichen Regisseuren wesentlich geändert oder / und falsch interpretiert.
Die Schriftstellerin Anna Mar, die die Dichter des russischen Symbolismus bewunderte, die davon träumte, an die Stelle von Zinaida Gippius zu treten, und mehrere Jahre lang mit Brjusov im Briefwechsel stand, der in vielerlei Hinsicht ihr Lehrer wurde, richtete die Aufmerksamkeit des Kinopublikums auf das Problem der weiblichen Subjektivität und die untergeordnete Stellung der Frauen gegenüber den Männern.37 Ein Beispiel ist Mars Film Dikaja sila / Wilde Macht (Boris Čajkovskij, 1916, Russisches Kaiserreich).38 Das Filmsujet kann dank des Librettos rekonstruiert werden, dessen Übersetzung aus dem Russischen ich vollständig wiedergebe:
Gugo Valevskij, ein Mann mittleren Alters, dessen Privatleben wie ein Geschäftstag vergangen ist, trifft Edda, ein reines junges Mädchen, die Nichte seiner ehemaligen Gouvernante Tante Bassi in ihrem Haus. Edda macht einen starken Eindruck auf ihn. Der Geschäftsmann, der sein ganzes Leben keine Liebe kannte, fühlt sich dank der liebevollen Zärtlichkeit und der Leichtgläubigkeit des jungen Mädchens verliebt. Bald nach dem ersten Treffen macht Hugo Edda einen Heiratsantrag und sie nimmt ihn an. In der Nähe der Datscha, wo Edda bei Tante Bassi wohnt, streicht ein unglücklicher Verrückter (Simon der Narr) herum. Als er Edda begegnet, behandelt sie ihn freundlich, und der unglückliche Mann, der sich daran gewöhnt hatte, überall nur Spott und Groll zu treffen, verliert sein Herz an sie. Es zieht ihn ständig an Eddas Fenster, aber Tante Bassi verjagt ihn aus Angst vor dem Geisteskranken. Eines Nachts, als Eddas Fenster offen steht, bricht Simon in den Raum ein. Der vom erwachten Sexualinstinkt getriebene Mann vergewaltigt das Mädchen, das vor Entsetzen keine Zeit hat, zu sich zu kommen. Gugo, der am darauffolgenden Tag Edda besucht, ist über ihre außergewöhnliche Stimmung erstaunt. „Vergibst du einer Frau ihre Vergangenheit?“, fragt sie ihn. „Niemals“, antwortet Gugo und lacht über die seltsamen Fragen seiner fantasierenden Verlobten. Er ahnt nicht, dass dies für Edda eine Frage auf Leben oder Tod ist und dass er mit seiner Antwort ihr Schicksal entscheidet. Nachdem sie Gugo einen Abschiedsbrief geschrieben hat, stürzt sie sich nachts in den Fluss (Sine-Fono 1916: 153).
Mars Filmsujet ist eine Variation des typischen „Die arme Lisa“-Sujets des frühen russländischen Kinos, das in den 1910er Jahren von den Filmproduzenten sehr beliebt war. Zorkaja schreibt, dass das Sujet auf die Geschichte von Nikolaj Karamzin Bednaja Liza / Die arme Lisa (1792) zurückgeht: Eine Frau trifft einen Mann, der ihr Vertrauen missbraucht, sie später verlässt, und die Frau begeht Selbstmord. Zorkaja (1975: 245) erklärt die Verbreitung des Sujets im frühen russländischen Kino folgenderweise: „Die Ausrichtung des Sujets auf eine weibliche Figur und das bittere weibliche Schicksal ist typisch für die russische Nationaltradition [...], in der eine Frau immer die besten Eigenschaften der Volksseele verkörpert.“ Meiner Ansicht nach kann man den Topos weiblicher Sexualität unter der destruktiven Kontrolle eines Mannes kaum nur der russischen Nationaltradition zurechnen. Die Gründe für die Popularität dieses Sujets liegen eher in denselben Geschlechterstereotypen, die Kallaš in ihrem Essay bespricht – eine Frau als das Objekt eines mächtigen, aktiven männlichen Subjekts.
In Mars Film geht es um die vorgebliche Schuld einer Frau an der Gewalt, die ein Mann (der außerdem psychisch krank ist) gegen sie verübt, und um die Verurteilung einer vergewaltigten Frau als gesellschaftlich anerkannte Praxis. Mar modifiziert das typische Sujet und übertreibt die Objektposition der Frau. Edda beschließt, Selbstmord zu begehen, aufgrund ihrer ‘Schuld’ daran, was mit ihr passiert ist: Sie hat Angst, ihrem zukünftigen Ehemann davon zu erzählen, da sie eine Verurteilung von ihm erwartet. Anna Mars Fokus auf die Probleme moderner Frauen stammte aus ihrer Arbeit in Žurnal dlja ženščin („Zeitschrift für Frauen“), in der sie von 1914 bis 1917 unter dem Pseudonym La princesse Lointaine Briefe von Leserinnen und Lesern beantwortete. Manche Leserbriefe wurden die Quelle ihrer Filmsujets (Andreeva 2020b: 96-101).
Die Rezensenten berücksichtigten die Gender-Themen in Dikaja sila nicht, lobten Mar aber für das ungewöhnliche Sujet:
Das Thema des Drehbuchs ist am weitesten von der Vorlage entfernt, in die sich die Autorin in ihren besten Werken für die Kinoleinwand oft verirrt […]. Das Thema des Drehbuchs ist das Eindringen der grausamen Animalität in den vorgegebenen Kreis des gewohnten Lebens (Vestnik kinematografii 1916, № 118: 8).40
Der Film Dikaja sila kann als Sozialdrama über eine vergewaltigte Frau bezeichnet werden. Mar wandte sich dem typischen Sujet „Die arme Lisa“ zu, in dem der Selbstmord einer von ihrem Geliebten verlassenen Frau normalerweise ein erwartetes Ende ist, und transformierte es, um die untergordnete Position der Frau in der Gesellschaft zu verdeutlichen.
Die russländische Frauenfilmdramaturgie begann mit der Koautorenschaft von Gončarov und Makarova im Jahr 1910 und entwickelte sich in der zweiten Hälfte der 1910er Jahre, nachdem einer der bekanntesten vorrevolutionären Filme Ključi sčastʹja 1913 erschien, als dessen Drehbuchautorin Anastasija Verbickaja galt. Der Film Ključi sčastʹja war ein Wendepunkt im frühen russländischen Filmdrama und beeinflusste insbesondere die Frauenfilmdramaturgie. Filmproduzenten begannen, Frauen (zuweilen waren es Schauspielerinnen) einzuladen, Drehbücher zu schreiben. Dies führte zum Anstieg der Zahl der Drehbuchautorinnen.
Einige Drehbuchautorinnen der 1910er Jahre versuchten, die Erwartungen von Zuschauern und Zuschauerinnen zu erfüllen: Sie stellten eine Darstellerin in den Mittelpunkt ihrer melodramatischen Filmsujets. Verbickaja hatte jedoch auch Gegnerinnen. Maria Kallaš kritisierte Verbickajas Pseudofeminismus und beschäftigte sich mit den Verfilmungen, da dieses Genre in Bezug auf die Rezeption von weiblichen Filmen die realistische Einschätzung der Arbeit einer Frau ermöglichte. Anna Mar bot Sujets an, die die Stellung moderner Frauen in der Gesellschaft problematisierten, damit erreichte sie für Drehbuchautorinnen eine neue, von Verbickaja unabhängige Entwicklungsstufe im frühen russländischen Kino.
Bisher wurde die frühe russländische Frauenfilmdramaturgie von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern in entsprechender Weise nicht erforscht. Die Analyse der Beiträge der einzelnen Drehbuchautorinnen zeigt jedoch, dass es unter anderem notwendig ist, den Filmkanon kritisch zu überprüfen.
Anna Andreeva
Universität Potsdam, Institut für Slavistik
I would like to thank Anna Kovalova for the constant and caring support and expert opinion, Daria Gribkova for language assistance, and Natascha Drubek for helpful advice and important suggestions on the final drafts.
Gefördert durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) - Projektnummer 491466077 / Funded by the Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG, German Research Foundation) – Projektnummer 491466077.
1 «Самую неблагодарную, самую ответственную работу сценариста, расплачивающегося за провалы и никогда не делящего успех, предоставили почти исключительно женщине» (Korolevič 1928: 10).
2 Unter Frauenfilmdramaturgie verstehe ich von Frauen verfasste Filmdrehbücher. Ich unterscheide zwischen Männer- und Frauenfilmdramaturgie, da Drehbuchautorinnen im Vergleich zu Drehbuchautoren andere Erfahrungen sowohl im Leben als auch im Film hatten. Außerdem lässt die Frauenflimdramaturgie sich von der Männerfilmdramaturgie separieren, da sie ihre eigene Entwicklung hatte, die ich im vorliegenden Artikel beschreibe.
3 In der wissenschaftlichen Literatur wird das Produktionsland normalerweise als „Russland“ bezeichnet, und der traditionelle Begriff für das Kino dieser Zeit (1907-1917) ist “das frühe russische Kino.” Natascha Drubek erklärt, warum diese Begriffe problematisch sind: „Es gibt daher ein erhebliches Problem mit dem Begriff ‘das frühe russische Kino’, den ich selbst in vielen Artikeln eher unkritisch verwendet habe. Je weiter wir nach Westen gehen, desto üblicher ist es – selbst in der ernsthaften Wissenschaft – ‘Russisch’ als Synonym für ‘Russländisch’ oder ‘Sowjetisch’ zu verwenden. Dies führt zu Missverständnissen, denn z.B. Filme von Dovženko oder Paradžanov werden im Kontext der sowjetrussischen Filmkultur betrachtet, obwohl sie keine ethnischen ‘Russen’ sind, und ihre Werke nicht einfach mit dem Adjektiv ‘Russisch’ beschrieben werden können.“ (Drubek 2021) In Anlehnung an Drubek ersetze ich “Russland” mit dem “Russischen Kaiserreich” und das Wort “russisch” mit dem Wort “russländisch” überall, wo es notwendig ist.
4 Der Lebenslauf von Olʹga Blaževič ist ihr Motivationsschreiben für Goskino, wo sie als Redakteurin und Übersetzerin von Filmen bei der Betriebsabteilung 1923 eingestellt wurde. Die Arbeit von Olʹga Blaževič wird in dieser Nummer von Apparatus im Artikel „Olʹga Blaževič, die erste russische professionelle Drehbuchautorin?“ von Ekaterina Artemeva und Maria Nesterenko thematisiert.
5 Laut Višnevskij hätten Frauen vor 1910 kein Drehbuch geschrieben. 1917 bezeichnen wir als das letzte Jahr der frühen Frauenfilmdramaturgie gemäß Višnevskij.
6 «Надо отдать справедливость писательнице: совершенно отрешившись в фабуле от стремления к анекдоту, она сумела насытить действие моментами красивой и глубокой психологии» (Turkin 1916, № 3: 78).
7 «Собственно главным руководителем художественной стороны была и является его [Ханжонкова] жена […]. Сам Ханжонков как во многих отношениях в области художественной блуждает в темноте» (Kallaš 1913). Ich danke Anna Kovalova, Roman Timenčik und Jurij Civ’jan für den Zugang zu ihrer noch unveröffentlichten Materialen mit Maria Kallašs Briefe an Knipper-Čechova, die sie mit mir geteilt haben. Für die Unterstützung bei der Arbeit im Archiv MHAT schulde ich der Archivistin Anastasija Knjazeva meinen herzlichen Dank.
8 874 Libretti sind jetzt online verfügbar: https://hum.hse.ru/en/ditl/filmprose/libretti/ Sie wurden von Teilnehmern der lehr- und forschungsorientierten Gruppe „Frühe russische Filmprosa“ (National Research University Higher School of Economics, 2018-2019) gesammelt und veröffentlicht.
9 Der erste Film von Olʹga Preobraženskaja Baryšnja-krestʹjanka / Fräulein Bäuerin (Olʹga Preobraženskaja, 1917, Russisches Kaiserreich) nach der gleichnamigen Geschichte von A. S. Puškin kam 4.2.1917 in die Kinos. «Первой моей работой в режиссуре была “Барышня-крестьянка” по Пушкину…. Фильм получился, его хвалили, но так как это была первая постановка женщины-режиссёра, то к этому отнеслись недоверчиво и часто на афишах и в рецензиях мою фамилию писали с мужским окончанием или приписывали постановку другим…» (Graščenkova 2005: 281).
10 «Я не отставал от своей французской соперницы и немедля подписал договоры с Аверченко, Дымовым, Федором Сологубом, Тэффи, Цензором, Амфитеатровым, Чириковым, Куприным, Маныч-Тавричанином, Леонидом Андреевым, Лазаревским, А. Маром <sic!>» (Chanžonkov 1937: 64).
11 Darunter waren Vera Karalli, Olʹga Pyžova, Marija Tokarskaja, Olʹga Rachmanova, Lidija Ryndina.
12 «В некоторых отношениях эта женская лирика интереснее мужской. Она менее обременена идеями, но более глубока, менее стыдлива» (Vološin 1910).
13 «В электрические театры ходит определенный контингент зрителей, с определенными требованиями и, удовлетворяя этим требованиям, наши московские кинематографические фирмы покупают у Вербицкой “Kлючи счастья”, у Арцыбашева – “Санина” […]. Xанжонковы из сил выбились, отыскивая новые пути. Обращались они ко всем нашим современникам – “знаменитым” писателям, раздавали несколько десятков тысяч аванса всем им» (Kallaš 1913).
14 «Сам хозяин рекламировал постановку, обращая внимание только на коллектив своих служащих, и то безымянный (узнают и будут переманивать) […]. Я не прочел в рекламах даже своего имени – имени сценариста и режиссера этой постановки. А прокатчики не стеснялись писать: “[…] поспешите записываться в очередь на ‘Ключи счастья’ А. Вербицкой”» (Gardin 1949: 37).
15 Anna Kovalova und Arina Ranneva behaupten im Artikel „Symbolism in Early Russian Cinema and the Ghostwriter Aleksandr Kursinskii“ (2020: 366-388), dass Autor der auf den Romanen von Nagrodskaja fußenden Drehbücher ein Dichter namens Aleksandr Kursinskij war.
16 «Не знаю, что испытывает автор сценария, но романист должен чувствовать себя очень странно. Когда я увидела инсценировку моего романа, при появлении первых персонажей мне захотелось крикнуть: “Да это не те, они не такие”. Слишком уж ясно я себе “вообразила” своих героев» (Nagrodskaja 1915: 5).
17 «Она [героиня женской кинодраматургии] должна быть и талантливой танцовщицею, и прекрасною наездницею, и недоступной графинею, и Матрешкой с Хитрова рынка, – и добродетельной, как ангел» (Granitov 1915, № 2: 66).
18 «Явление “женского” сексуального сценария типично не только для русской серии. Через то же горнило прошло кино Италии, Америки, Германии. Женщины писали мистическо-бульварные романы […]. Это же искусство они воссоздавали на экране» (Korolevič 1928: 14). In den 1920er Jahren gab es noch kein Wort für die Sexualisierung in der russischen Sprache, deshalb schreibt Korolevič “sexuelle” statt “sexualisierte” Szenarien.
19 «Уклон эпохи, уровень знаний и чувства женщины, заключенной в клетку обычая и предрассудков, был мелок и узок, отсюда узость сценарной сферы. Женщину превратили в эротическую погремушку» (Korolevič 1928: 14).
20 «Ему [кинематографу] не нужно всех этих ваших “зачем”, “почему”, “отчего”, всех этих “проклятых вопросов” […]. Ему не нужно всего того, что характеризует, – судя по образцам творений лучших писателей – мужское творчество. […] Не вопросы жизни занимают большинство женщин, а сказки жизни, то страшные, то горькие и печальные, то нежные, то причудливо-заманчивые. И эти-то сказки как нельзя более подходят для нового жреца человеческих развлечений» (Grinevskaja 1916, № 3: 6).
21 «[…] если газетчики скажут, что лучше смотреть на экране Tургенева, чем Вербицкую, – пойдут смотреть Tургенева – это будет “принято” и войдет в силу, а со временем привыкнут и, может быть, разберут, что Tургенев лучше Вербицкой…» (Kallaš 1913).
22 Bela und Teni grecha sind ohne Untertitel in Gosfil’mofond erhalten.
23 «Беда вся в том, что в этом деле техника явилась раньше искусства и целая свора предпринимателей захватила экран в свои руки, просто, выражаясь грубо, опоганила его, делая аферы на низкопробных вкусах нашей публики» (Kallaš 1913).
24 «Толпа [зрители кабаре] жадно слушает ее [поэтессу] и вниманием своим не только поощряет к дальнейшему, но явно доказывает, что интимное женской жизни ей во много раз интереснее какого-то там признания личности и утверждения гражданских прав» (Kallaš 1913).
25 «[...] ни единой капельки ни искания свободы, ни серьезного уважения к раскрепощению женской личности» (Kallaš 1913).
26 «Неужели сами женщины не осознают того, что толпа ими интересуется под определенным углом зрения, именно в области всяческих половых проблем, и прислушивается к их стихам […], как прислушиваются к сенсационному судебному процессу, изобилующему множеством всяких рискованных деталей?» (Kallaš 1913).
27 «Побольше бы истинной свободы – уважения к себе и поменьше этого публичного расшнуровывания. Оно только унижает женщину. Пусть самые талантливые об этом подумают» (Kallaš 1913).
28 Die Chronologie der Arbeit am Drehbuch Obryv wird durch die Briefe von Kallaš an Knipper-Čechova rekonstruiert. Unter diesen Briefen befindet sich eine Einladung zur Vorführung des Films für Knipper-Čechova.
29 «Времени на эту работу [“Обрыв”], к сожалению, было затрачено очень мало, ввиду спешки, вызванной чисто кинематографическими обязательствами […]» (Kallaš 1913).
30 Ende 2021 wurde ein Artikel von Natal’ja Rjabčikova zu Maria Kallašs Biographie „Die Leiterin der literarischen Abteilung des A. Chanžonkovs Filmstudio Maria Kallaš-Garris und MHT“ veröffentlicht. Unabhängig voneinander kommen Rjabčikova und ich zu ähnlichen Schlussfolgerungen bezüglich Kallašs Karriere, da wir dasselbe Material – die Briefe von Kallaš an Knipper-Čechova – untersucht haben. In ihrem Artikel beweist Rjabčikova darüber hinaus, dass Kallaš als Regisseurin an einem Dokumentarfilm über Aleksandr Puškins Wohnorte arbeitete, aber der Film unbeendet blieb.
31 «Нужно пожалеть об одном, что женщины в своих измышлениях хотят идти по стопам составителей сценариев-мужчин и намерениями своими отходят от чистых и ясных путей женщин-сказительниц нашего золотого детства» (Grinevskaja 1916: 6).
32 Das Wort kinopisatel’nica kann buchstäblich so übersetzt werden: eine Schriftstellerin (pisatel’nica), die Drehbücher für das Kino (kino) schreibt. Dieses Wort existierte in dieser Zeit und ersetzte oft das Wort scenaristka („Drehbuchautorin“), weil es respektabler war, eine Schriftstellerin als eine Drehbuchautorin zu sein. Anna Mar selbst identifizierte sich in erster Linie als Schriftstellerin.
33 «Стиль Анны Мар и ее последовательниц отразился на русском кино» (Korolevič 1928: 13).
34 «[...] под эгидой Мар прошло несколько этапов кино русского прошлого» (Korolevič 1928: 12-13).
35 «Кинематограф ставит мою фамилию. Но забывает ставить мой сценарий» (1916, Pegas).
36 «Мысль и тема сценария искажены до смешного. Главные надписи пропущены […]. В № 3 журнала Пегас можно прочитать мой сценарий и легко убедиться, что я вовсе не так уж глупа и смехотворно лжива, как обо мне думает зритель, глядя на экран» (Turkin 1916).
37 Briefe von Anna Mar an Brjusov (1912, 1913, 1916, 1917) sind in der Handschriftenabteilung der Russischen Staatsbibliothek (OR RGB) erhalten geblieben. Im Jahr 1913 wurde Mars Erzählung “Iduščie mimo” / “Vorbeigehende” mit Unterstützung von Brjusov in der Zeitschrift Russkaja myslʹ veröffentlicht. Im Brief aus dem Jahr 1913 dankt sie (Mar 1913) Brjusov für seine Hilfe und gibt zu: „Ich war in St. Petersburg krank, und hier in Bessarabien bin ich auch nicht ganz gesund. Das hindert mich nicht daran, davon zu träumen, einen Roman zu schreiben und zumindest Frau Gippius zu werden. Lächeln Sie mit mir.“ «Я была больна в Петербурге, не совсем здорова и здесь, в Бессарабии. Это не мешает мне мечтать написать роман и стать, по меньшей мере, г-жей Гиппиус. Улыбнитесь вместе со мною» (Mar 1913).
38 Einige Fragmente des Films Dikaja Sila sind in Gosfil’mofond erhalten geblieben: „Das erhaltene Fragment des Films stellt die Szene von Eddas Selbstmord dar. Darin steht sie auf einem Felsen, zögert, schaut hin und her. Die Landschaft spielt in dieser Szene eine wichtige Rolle; Edda sieht klein und hilflos zwischen den dichten Bäumen und dem schnell fließenden Fluss im Hintergrund aus” (Andreeva 2020a).
39 Ich bedanke mich bei Mitarbeiterinnen des Archivs Gosfil’mofond, die mir erhaltene Fragmente von Anna Mars Film Dikaja sila gezeigt haben.
40 «Сценарий [...] – не из самых ярких, вылившихся из-под пера Анны Мар, но в то же время он по теме и исполнению наиболее далек от шаблона, на который часто сбивается писательница в лучших своих произведениях для экрана […]. Тема сценария – вторжение в предначертанный круг привычной жизни грубой животной силы» (Vestnik kinematografii 1916, № 118: 8).
Anna Andreeva studierte von 2016 bis 2022 Slavistik an der Higher School of Economics (Moskau) und im Wintersemester 2021/2022 Osteuropäische Kulturstudien und Vergleichende Literatur- und Kunstwissenschaft an der Universität Potsdam. Seit 2022 ist sie eine selbständige Slavistin.
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